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Home Soziales & Recht Der Umwelterkrankte und die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes

Der Umwelterkrankte und die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes

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I.
Die Umwelt des Menschen hat sich in den letzten 120 Jahren enorm verändert. Überall trifft man auf von Menschen erzeugte Strahlung und elektromagnetische Felder; Hunderttausende von neuen Stoffen wirken in Luft, Nahrung, Wasser, Textilien und Wohnraum etc. pp auf uns ein.

Dadurch entstanden zahlreiche neuer Krankheiten. Neue Krankheiten bringen es aber naturgemäß mit sich dass man ihre Ursachen zunähst nicht genau kennt und keine Therapiemethoden zu Hand hat, diese neuen Krankheiten zu heilen.

Denn beides- also sowohl die Ursachenforschung (d.h. die Erforschung von Ätiologie und Pathogenese) als auch die Erarbeitung geeigneter Behandlungsmethoden-erfordert Zeit.

Immer wieder wird auch von den Verursachern versucht, die Zusammenhänge, die sowieso schon extrem schwierig aufzudecken sind, absichtlich zu verschleiern. Man behandelt also z. B. Nahrungsmittel nicht mehr nur mit einem einzigen Gift, sondern mit einer Giftmischung.

Das hat für Verursacher zwei Vorteile:

a) Da ja in der Regel für jedes Gift ein gesonderter Grenzwert existiert, ist die Gefahr dass diese Grenzwerte überschritten werden geringer.

b) Der Nachweis einer Schädigung wird noch schwieriger, denn man hat es ja nicht mehr einer Ursache zu tun, sondern mit mehreren. Da auch Kombinationswirkungen möglich sind, ist die Lage für den, der die Ursachen ergründen will, zunächst völlig hoffnungslos.

Umwelterkrankte sind also in einer besonders üblen Situation:

a) Sie kennen in der Regel die Ätiologie ihres Leidens nicht, wissen also nicht genau, wie sich verhalten müssen, um die schädlichen Einwirkungen, die die Krankheit ausgelöst haben, zu vermeiden.

b) Es gibt noch keine Behandlungsmethode, von der man sicher weiß, dass sie hilft.

Das einzig Mögliche sind Heilversuche.

II.
1. Umwelterkrankte sind also bedauernswerte Geschöpfe, die ganz besonders einer medizinischen Hilfe bedürfen - möchte man meinen.

Ganz anders der 1. Senat der Bundessozialgerichts. Er kam um 1993 plötzlich zu der Meinung, solche Umwelterkrankte hätten überhaupt keinen Anspruch auf Behandlung.

Und das liest sich dann so:

"Eine Erweiterung der Leistungspflicht der Krankenkassen auf Behandlungsmethoden, die sich erst im Stadium der Forschung oder Erprobung befinden und (noch) nicht dem allgemein anerkannten Gesetz auch bei schweren und vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheiten nichts zu tun."

D. h. ein Umwelterkrankter hat in der Regel überhaupt keinen Anspruch auf Behandlung.

Man muss sich das mal vorstellen:

Ein Massenmörder wird schon dann nicht ans Ausland ausgeliefert, wenn auch nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass er dort zum Tode verurteilt wird. Dagegen verurteilt das BSG Umwelterkrankte de facto zum Tode, in dem es ihnen - denen durch hohe Zwangsbeiträge zur Krankenkasse in der Regel die Mittel fehlen, sich aus eigener Tasche behandeln zu lassen - jede Behandlungsmethode verweigern will. D. h. bei Massenmördern genötigt der Rechtsprechung schon die geringste Wahrscheinlichkeit, ihn zu schützen. Umwelterkrankte werden dagegen nur geschützt, wenn absolute Sicherheit eines Heilerfolgs gegeben ist.

2. Diese lebensfeindliche Haltung ist das ureigenste Geschöpf des 1. Senats des Bundessozialgerichts. Der Bundesgerichtshof (BGH) und früher auch das Bundessozialgericht (BSG) haben bzw. hatten eine wesentlich patientenfreundlichere Haltung. So urteilte das Bundessozialgericht noch am 21.11.1991:

"Diese Rechtsprechung des Senats, die für das Privatversicherungsrecht im Grundsatz auch vom BGH vertreten wird (vergl. VersR 1982, 285) und die in der Literatur weitgehende Zustimmung gefunden hat, widerspricht auch nicht dem allgemeinen Denkansatz. Es liegt kein Widerspruch darin, einerseits bestimmten Arzneimittels durch allgemeine Erfahrungssätze nicht gesichert ist und andererseits eine Wirksamkeit doch nicht für ausgeschlossen zu halten ist."

III.
Am 22.11.2002 gab das Bundesverfassungsgericht dem Bundessozialgericht dann contra und erklärte:

"In der Verfassungsordnung des Bundesrepublik Deutschland haben Leben und körperliche Unversehrtheit hohen Rang. Aus Artikel 2 II 1 GG folgt allgemein die Pflicht staatlicher Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen." Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der im Grundrecht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidungen gerecht werden."

Das Bundessozialgericht reagierte darauf aber nicht, weil es sich nur um eine vorläufige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts handelt.4Diese Haltung ist natürlich abwegig, denn auch aus solche vorläufigen Entscheidungen wird die Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes ersichtlich. Ganz offensichtlich will der 1. Senat des Bundessozialgerichts bei seiner grundgesetzwidrigen Rechtsprechung bleiben, soweit dies nur irgend möglich ist.

IV.
Am 06.12.2005 erließ dann das Bundesverfassungsgericht seine sogenannte Nikolaus-Entscheidung; dort heißt es:

"Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art.
2 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden."


Das Bundesverfassungsgericht sagt also: man kann den Versicherten nicht einfach Leistungen vorenthalten, sondern dies geht nur, wenn es mit dem Recht auf Leben und Gesundheit und dem Sozialstaatsprinzip in Einklang zu bringen ist.

D. h. Umwelterkrankte haben unter Umständen auch Anspruch auf einen Heilversuch.

V.
1. Damit sind die Umwelterkrankten einer angemessenen Behandlung einen bedeutenden Schritt näher gekommen.

Leider aber gibt es keinen Grund, sich nun bequem zurückzulehnen und zu denken, jetzt haben wir es geschafft.

2. Viele Kassen und insbesondere der Medizinische Dienst sind Feinde der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und werden alles tun, damit die gesetzlich Versicherten ihre vom Grundgesetz gewährten Rechte auf Leben und Gesundheit nicht wahrnehmen können.

VI.
1. Ich habe auch den Eindruck, dass der 1. Senat des Bundessozialgerichts den Schwerkranken erneut alle möglichen Hindernisse in den Weg legen will.

2. Viele Kassen wollen die Nikolaus-Entscheidung offenbar auf lebensbedrohliche Erkrankungen beschränken. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts tendiert möglicherweise auch dazu, will aber vielleicht manche Erkrankungen wie z. B. Erblindung mit dazu nehmen.

3. Kingreen zählt zum Geltungsbereich der Nikolaus-Entscheidung richtigerweise auch chronische Erkrankungen, ja geht sogar noch weiter:

"Doch die Idee einer aus Art. 2 I GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art, 20 I GG) abgeleiteten Interdependenz zwischen Zwang und Leistungsversprechen hat ein über lebensbedrohliche/chronische Erkrankungen hinausreichendes Potential. Sie wirft insgesamt die Frage auf, ob der Staat dem Bürger die Freiheit zur Ausgestaltung seines Krankenversicherungsschutzes nehmen, ihm aber zugleich die Finanzierung von Leistungen in dem zwangsweise zugewiesenem System verweigern darf, wenn diese Leistungen - die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit ( § 12 SGB V) einbeziehend und die Eigenverantwortung der Versicherten ( § 2 I 1 SGB V) aktivierend - eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf haben."

4. Erfreulich auch die Ausführungen des Sozialgerichts Frankfurt am Main8 in einem Beschluss vom 22.08. des letzten Jahres:

"Nach Überzeugung des erkennenden Sozialgerichtes sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus den oben aufgeführten Gründen auch auf schwere, nicht lebensbedrohliche Krankheiten eines Versicherten, zu übertragen, sofern diese den Versicherten in seiner Lebensführung nicht nur deutlich beeinträchtigen, sondern bei weiterem Fortschreiten des Krankheitsverlaufs zu ganz massiven körperlichen und/oder geistigen Funktionsverlusten führen werden."

VII.
Einer der wesentlichen Punkte, die der Umwelterkrankte beachten muss, ist es, aufzuzeigen, dass die von ihm gewünschte Behandlungsmethode wenigstens eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf hat.

Zu den Nachweismöglichkeiten führt das Bundesverfassungsgericht in der Nikolaus-Entscheidung aus:

"Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt. ..Solche Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand anderer in gleicher Weise erkrankten, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden. Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung können derartige Erfahrungen Folgerungen für die Wirksamkeit der Behandlung erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln."

Abschließend kann man folgendes Resumee ziehen:

Das Positive:
Die Nikolaus-Entscheidung gibt dem Umwelterkrankten eine wichtige Waffe im Kampf gegen seine Krankenkasse.

Das Negative:
Der Umwelterkrankte ist häufig am Ende seiner Kraft. Aber so bleibt ihm meist nichts anderes übrig als mit letzter Kraft für eine möglicherweise heilende Behandlung zu kämpfen.

Dr. jur. Hugo Lanz

 

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- polnisches Sprichwort -

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